Ausnahmsweise schreibe ich nicht selbst, sondern veröffentliche einen Artikel über eines meiner Fotos im Digital Companion, Ausgabe Dezember 2024 von W. Scott Olsen. Da es sich um eine kostenpflichtige Seite handelt, habe ich den Herausgeber um die Möglichkeit gebeten, den Artikel hier erneut zu veröffentlichen, was mir freundlicherweise gewährt wurde.


Reading Frames

„Herbst in New York“ von Ulrich Jousten

Von W. Scott Olsen

Beginnen wir mit dem Bild und bleiben wir bei ihm.

Sehr viele Bilder basieren auf dynamischer Energie. Bilder aus der Tierwelt, Sportbilder, Hochzeitsbilder, Schnappschüsse von Familie und Freunden – viele Fotografien versuchen, Bewegung als Gefühl von Energie einzufangen, was eine Erzählung impliziert, die wir als Betrachter schätzen.

Es gibt jedoch auch andere Schulen der Fotografie, die das Statische feiern. Die Stilllebenfotografie ist eine davon. Aber das vielleicht bekannteste scheinbar statische Bild ist das Porträt.

Porträts, beginnend mit Malerei und Zeichnung, lange bevor die Fotografie aufkam, waren eine Möglichkeit, sich an jemanden zu erinnern, ihm eine Art Dauerhaftigkeit zu verleihen, über Gesundheit oder Gebrechen des Körpers hinaus. Der Porträtmaler versucht, etwas Wesentliches über den Charakter oder die Seele einer Person in ihrem Ausdruck und Verhalten und manchmal auch in ihrer Umgebung einzufangen. Gemälde von Königen und anderen berühmten Persönlichkeiten haben zum Beispiel oft zwei Ebenen der Inhaltsbetrachtung. Die eine ist die Darstellung der Person, die andere sind die Artefakte und Ausstattungsgegenstände im Hintergrund, die oft als Symbole für verschiedene Maßstäbe von Bedeutung dienen.

Die meisten Porträtaufnahmen werden in einem Studio gemacht. Dort haben die Künstler die Kontrolle über Licht und Schatten. Der Gesichtsausdruck kann studiert und verändert werden. Die Garderobe ist eine ästhetische Entscheidung für die Geschichte. Alles an einem Bild ist eine Entscheidung.

Doch es gibt auch ein ganzes Genre von Porträts, die zufällig, ungeplant und aus dem Moment heraus entstanden sind. Diese gehören zu einer Unterkategorie der Straßenfotografie – dem Straßenporträt.

Es gibt zwar immer Ausnahmen, aber im Allgemeinen erinnert das Straßenporträt an eine Person in situ. Es gibt keine vorbereiteten oder durchdachten Konstruktionen. Das Setting ist keine absichtliche Metapher. Aber durch welche Magie auch immer die kompositorischen Elemente plötzlich zusammenkommen, ein entscheidender Moment tritt ein und ein Einblick in den Charakter oder die menschliche Verfassung wird offenbart.

Sehen Sie sich dieses Bild von Ulrich Jousten an. Als ich dieses Bild zum ersten Mal sah, überkam mich ein Gefühl des Friedens, ein Gefühl der Ruhe, ein Gefühl der Gelassenheit und der Selbstbeobachtung, das ich nicht erwartet hatte. Ich kann Ihnen weder den Namen dieser Frau noch irgendetwas über ihre Persönlichkeit sagen. Ich kann Ihnen nichts über ihre wahre Stimmung oder ihre Hoffnungen sagen. Sie ist für mich anonym, und damit – und das ist wichtig – erhebt sie sich auf die Ebene der Metapher.

Eigentlich ist das nicht richtig. Das Bild, von dem sie ein Teil ist, erhebt sich zur Metapher.

Wenn Sie sich das Bild ansehen, ist tatsächlich eine Menge los. Das Wetter ist unbeständig. Es regnet – zwar nicht so heftig wie bei einem Orkan oder Gewitter, aber doch so stark, dass man sich schützen muss. Das Wasser im Fluss ist nicht ruhig, so dass eindeutig Wind mit diesem Sturm verbunden ist. Es regnet so stark, dass das ferne Ufer in Nebel gehüllt ist und der Bürgersteig in der Nähe des Objektivs glitschig ist. Mit anderen Worten, es ist ein schwieriger Tag.

Der Baum rechts in diesem Bild wechselt von helleren zu dunkleren Tönen, von links nach rechts, von Klarheit zu Geheimnis. Er hat auch die Form eines Ungeheuers, wenn ich das mal so sagen darf. Es gibt eine Stelle, die wie ein offener Kiefer aussieht, einen Schlitz für die Augen und sogar eine Andeutung einer Zunge. Dieser Baum/dieses Monster scheint von der rechten Seite des Bildes heranzukommen und die Frau in der Mitte zu verschlingen. Die Spiegelung und der Schatten auf dem Bürgersteig unterhalb des Baumes sind ein schönes Element, das dem Bild Tiefe verleiht und mit dem eintönigen Grau des gesichtslosen Himmels oben links kontrastiert.

Aber das Auffälligste an diesem Bild ist natürlich die Frau in der Mitte. Der Tag um sie herum ist windig und regnerisch und bedrohlich, doch der Regenschirm ruht auf ihrer Schulter auf eine lässige und fast bequeme Weise. Sie trägt einen Regenmantel, aber sie hält ihn nicht am Revers fest, als ob das Wetter bedrohlich wäre. Stattdessen geht sie der banalsten aller zeitgenössischen Aktivitäten nach: Sie überprüft etwas auf ihrem Handy. Sie könnte einen eingehenden Anruf von einem Liebhaber oder einem Freund sehen. Oder sie sieht sich eine Einkaufsliste an. Das ist nicht wirklich wichtig. Was zählt, ist ihr Gesichtsausdruck und die Art und Weise, wie sie steht.

Warum habe ich dann so ein Gefühl des Friedens, wenn ich ein Bild betrachte, auf dem ein Sturm und ein Monster zu sehen sind? Diese Frau inmitten des Sturms sieht entspannt aus. Ihr Gesichtsausdruck ist wach und entspannt zugleich. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist weder Freude noch Traurigkeit. Er ist auch nicht sehr nachdenklich. Er scheint sachlich zu sein. Ja, denkt sie, vielleicht werde ich auf dem Heimweg einen Kaffee kaufen.

Die Tatsache, dass dieses Bild in Schwarz-Weiß gehalten ist, verleiht ihm den bekannten Reiz der Zeitlosigkeit. Es handelt sich weniger um die Erzählung einer bestimmten Frau an einem bestimmten Tag als vielmehr um ein Tableau, eine Metapher oder ein Symbol für jenen Moment in all unseren Tagen, in dem der Sturm um uns herum, das Chaos unseres Lebens, präsent, aber auch beherrschbar ist. Wir kennen Frieden, weil wir Streit und Bedrohung kennen.

Die Tatsache, dass die Zweige visuell mit dem Schirm verbunden sind, macht die Sache noch komplizierter. Vielleicht wächst das Ungeheuer aus dem Schirm heraus. Vielleicht ist es dabei, ihn zu verschlingen. Diese Dinge müssen nicht aufgelöst werden. Es gibt hier so viele Kontrapunkte: die elegante vertikale Linie der Frau, die horizontale Linie der Gitter im Bürgersteig und des Flusses, der schön platzierte Horizont auf halber Strecke in der Vertikalen, der Formalismus des Bürgersteigs und des Geländers, der Naturalismus des Baumes. Sie tragen zur Spannung des Bildes bei und vertiefen meine Wertschätzung für ihre scheinbare Ruhe.

Ich bin mir bewusst, dass meine Reaktion auf dieses Bild zu einem großen Teil eine Projektion meiner eigenen Psychologie und Ästhetik ist. Andererseits reagieren wir alle so auf Kunst. Es gibt etwas, das ich aus meinem eigenen Leben wiedererkenne, nicht in der Situation, sondern im Kontext.

Und ich erinnere mich an den Satz der Zen-Buddhisten: Vor der Erleuchtung: Hacke Holz, trage Wasser. Nach der Erleuchtung: hacke Holz, trage Wasser. Ich sehe hier die Hoffnung und den Optimismus des Alltäglichen, inmitten des Schwierigen.


Vielen herzlichen Dank, Scott, für diese aufschlussreiche Rezension. Ich weiß das sehr zu schätzen!